Zum diesjährigen Zürich-Marathon melde ich mich am letztmöglichen Termin eine Woche vor dem Rennen an. Eine nicht optimale Vorbereitung mit Achillessehnenproblemen anfangs Jahr und teilweise ungenügend Zeit für Trainings sorgen für Unsicherheit. Ich kann zwar sowohl die langen Läufe als auch die Intervalltrainings alle absolvieren, aber die mittleren Läufe kriege ich nicht alle unter. Und als dann noch ein Long Jog in der Hitze mit zu wenig Flüssigkeit und Essen ziemlich misslingt, zweifle ich zusätzlich. Jedoch geben mir sowohl die guten Trainings als auch die Erfahrung Zuversicht und als sich das Wetter perfekt ankündigt und der letzte Long Jog gut verläuft, entscheide ich mich zur Teilnahme. Der richtige Entscheid…
In den Tagen zuvor gibt es viel Kohlehydrate und am Vorabend quartiere ich mich wiederum bei den Eltern in Zürich ein. Tagwache ist um 06:00 Uhr mit perfektem Sonnenaufgang über dem Zürichberg. Heute soll es bis zu 28 °C werden. Somit ist die Devise, früh zurück im Ziel zu sein. Frühstück (Zopf mit Honig und eine halbe Banane), Tenüvorbereitung, Toilette und um 07:45 Uhr auf den Shuttlebus ab Strassenverkehrsamt zum Startgelände. Dreissig Minuten vor dem Start nochmals eine halbe Banane und die Flüssigkeitszufuhr weiterhin hoch halten. Im roten Startblock treffe ich auf bekannte Gesichter und stehe anschliessend kurz vor den 3-Stunden-Tempomacher ein, um vor dem Pulk laufen zu können. Trotz suboptimaler Vorbereitung, möchte ich wiederum die 3-Stunden-Schallmauer anpeilen. Entgegen der teilweisen Unsicherheit bezüglich meines Formstands freue ich mich extrem auf den Lauf. Wetter super, Magen (noch) bestens und top motiviert fiebere ich dem Startschuss entgegen.
Um Punkt 08:30 Uhr geht es los. Direkt hinter der Elite dauert es nur wenige Sekunden, bis ich die Startmatte überquere und ins Zuschauermeer rund um Bürkliplatz und Bellevue eintauche. Bereits bei der Quaibrücke erspähe ich meine persönlichen Fans ein erstes Mal und verabschiede mich sogleich auf die Ehrenrunde Richtung Bahnhof Tiefenbrunnen. Meine Taktik sieht vor, mindestens bis zur Halbmarathon-Marke – besser noch bis nach Meilen (Kilometer 25) – keine Reserven anzubrauchen mit konstanter Pace so um die 4:10 min/km. Dies ist nicht nur eine utopische Wunschvorstellung sondern gelingt vorerst exzellent, auch wenn ich zu Beginn wie gewohnt deutlich schneller unterwegs bin. Bald findet sich eine lose aber ziemlich konstant laufende Gruppe. Erneut passiere ich das Bellevue und biege ein in die Bahnhofstrasse – wohl wissend, dass diese Schleife am Schluss schmerzhafter sein wird als jetzt. Ich präge mir ein paar Stellen ein, um für die Schlusskilometer motivierende Anhaltspunkte zu haben.
Kurz vor der Viertelmarathon-Marke wird der Start nochmals überquert, bevor wir vorbei an Bürkliplatz, Quaibrücke, Bellevue, Opernhaus und Bahnhof Tiefenbrunnen hinunter nach Meilen geschickt werden. Der Wind ist heute durchaus ein Thema und äussert sich als Gegenwind auf dem Hinweg – zumindest psychologisch geschickt. Ich versuche teilweise im Windschatten zu laufen, führe aber oft, um entstandene Lücken zu schliessen. Ich fühle mich nach wie vor super, nutze jedoch jede Verpflegungsmöglichkeit, wo ich mir ein paar gehende Sekunden für die Verpflegung gönne. Von Beginn weg nehme ich Wasser und sobald es hat (Kilometer 15) auch zwei Bissen Riegel. Der Magen spielt bestens mit und auch die Blase lässt mich nach initialem Drang in Ruhe.
Die steigenden Temperaturen sind spürbar, dank regelmässigem Wasserkonsum geniesse ich aber vorwiegend Sonnenschein und trockene Verhältnisse – ein krasser Kontrast zur Teilnahme im 2016! Das zweite Viertel laufe ich ziemlich genau eine Minute langsamer als alle anderen Viertel. Witzig ist, dass Viertel 1, 3 und 4 sekundengenau gleich schnell sind. Die langsamere Pace auf den Kilometern 10-20 erkläre ich mir einerseits durch meine aktive Drosselung (keine Kräfte vorschnell verbrauchen), anfängliches Gedränge bei der Verpflegung sowie mit dem Gegenwind. Die Halbmarathonmarke passiere ich in 1:28.52 und somit mit einer guten Minute Reserve – noch kein komfortables Polster.
Weit vor Meilen kommt die Spitze entgegen. Schrittweise auch die weiteren Spitzenläufer sowie die führende Frau und spätere Siegerin Maude Mathys. Dan sehe ich extrem weit vorne, Marco scheine ich verpasst zu haben. Denn bereits biege ich in die Kehrschleife in Meilen ein und geniesse die laute Musik und die zahlreichen Zuschauer. Kurz ein Wasser und ab auf den Rückweg in die Stadt.
Nun darf ich gemäss meiner Taktik die Handbremse lösen. Mit gutem Gefühl laufe ich die Kilometer deutlich unter 4:10 Minuten und überhole einige Eliteläuferinnen. Ein gutes Zeichen, dass ich das Rennen bisher richtig eingeteilt habe. Mein Verpflegungskonzept behalte ich ebenfalls bei und habe keinerlei Probleme damit. Ab und an bieten auch Anwohner am Strassenrand Wasser an, wovon ich einmal Gebrauch mache. Noch immer säumt sich das Feld der Läufer auf der linken Seite Richtung Meilen, wo mir auch prompt ein Arbeitskollege kurz zuruft. Dann dünnt sich die Läuferschar aus, bis schliesslich der Besenwagen passiert. In Erlenbach sehe ich wieder meine Eltern. Auf dem Hinweg haben sie mich um ein paar Meter verpasst. Gutes Fotoshooting mit breitem Grinsen auf dem Gesicht.
Da ich mich weiterhin so gut fühle, kommen auch erste Zweifel auf, ob nicht plötzlich der Hammermann hinter der nächsten Kurve auf mich wartet. Parallel dazu beginnen die Rechenspiele: Welche Pace reicht, um unter drei Stunden im Ziel zu sein? Vorerst sind es 4:30 min/km. Doch bereits kommt wieder der Bahnhof Tiefenbrunnen ins Sichtfeld. Beim Verpflegungsposten kurz vorher habe ich die letzte Gelegenheit wahrgenommen und mir einen Notfallgel gekrallt, den ich als Gegenmittel zum möglichen Hammermann ins Ziel tragen will. Ab Bahnhof Tiefenbrunnen reicht mir bereits eine Pace von 5:00 min/km und ab da bin ich sehr sicher, dass ich meiner dritten Sub-3-Zeit entgegen laufe. Ich nehme mir vor, die letzten Kilometer durch die Zuschauermassen in der Innenstadt möglichst zu geniessen.
Leichter gesagt als getan: Nun wird es wirklich hart. Zwar kein plötzlicher Hammermann, aber dennoch sind die Beine unnötig schwer. Und nach Bellevue und Quaibrücke erwartet mich auch noch die unnötige Zusatzschleife zum Hauptbahnhof. Trotzdem geniesse ich die Anfeuerungsrufe, kann mich aber nur noch mit einem gequälten Lächeln bedanken. Anfangs Bahnhofstrasse passiere ich das bereits zu Beginn wahrgenommene Schild «39″. Beim erneuten Rechenspiel zeigt sich, dass die Sauerstoffversorgung meines Hirns nicht mehr optimal ist: Bei noch 18 verbleibenden Minuten und zwei Kilometern schliesse ich, dass ich nun 9:00 min/km laufen darf. Der Fehler ist offensichtlich: es sind noch gut drei Kilometer bis ins Ziel. Beim Wendepunkt Nähe Hauptbahnhof bemerke ich meinen Fehler, was die Motivation nicht gerade steigert. Aber auch so bleibt noch genügend Spielraum.
Leider muss ich nun meinen Mitläufer, mit dem ich seit Höhe Opernhaus unterwegs bin, langsam ziehen lassen. Die Pace bricht zwar nicht völlig ein, aber ich bin nicht mehr in der Lage, mich zu steigern. Ein letztes Wasser mit Gehpause kurz vor dem Bürkliplatz, den Gel brauche ich aber nicht. Mit letzten Kräften hinein in den langgezogenen Schlussspurt und ins Zuschauermeer. Eine Arbeitskollegin nehme ich noch wahr, aber meine Eltern kurz vor dem Ziel werden bereits ein Opfer des Tunnelblicks. Erst als ich die Ziellinie überquert habe, kommt das Bewusstsein, das grosse Ziel erreicht zu haben – «Sub 3″! Nun geniesse ich den Moment, die Sonne und meine schweren Beine.
Ich bin vorbehaltlos zufrieden, auch wenn eine Steigerung am Schluss nicht mehr drin gelegen ist. Das Rennen bin ich extrem konstant gelaufen und die zweite Hälfte sogar eine Minute schneller als die erste. Schlussendlich resultieren 2:56.41,6 Stunden. Meine Bestzeit habe ich um knapp 40 Sekunden verpasst. Wenn mir jemand diese Zeit am Start angeboten hätte, wäre meine Unterschrift sicher gewesen – gerade auch aufgrund der Tatsache, dass ich anfangs Jahr wegen der Achillessehne überhaupt nicht trainieren konnte und auch sonst die Vorbereitung nicht perfekt war.
In meiner Alterskategorie erreiche ich den 31. Rang von 535 Klassierten. Gesamthaft den 72. Rang und somit Top 100. Zufrieden und nach wie vor ein bisschen ungläubig schlendere ich zurück zum Bahnhof Enge.